Herzogenaurach. Am vergangenen Dienstag haben sie ihre Stellen angetreten: die Auszubildenden bei den kleinen und größeren Unternehmen im Landkreis. Die meisten werden ihre Lehre abschließen und dann versuchen, ihren Weg zu gehen und wenn möglich „nach oben" zu streben. In unserer globalen Welt werden manche ihren Heimatort verlassen und ebenso die Firma, in der sie ausgebildet worden sind.
Vor 100 Jahren war das noch anders. Da mussten die jungen Männer - für sie und nur für sie galt dieses Gesetz - nach Beendigung ihrer Lehrzeit, wenn sie Gesellen geworden waren, zum Wanderstab greifen, um sich in der Fremde weiterzubilden, um Erfahrungen und neue Erkenntnisse zu sammeln, „auf die Walz" gehen nannte man das früher. Darüber hinaus waren die „wandernden Gesellen gehalten, ein Wanderbuch zu führen, in das ihre Leistungen, ihr Fortschritte und auch ihr Verhalten eingetragen wurden. Auch wenn des Reichs übermächtiger Kanzler Fürst Otto von Bismarck 1871 das Wandergesetz für Gesellen aufgehoben hatte, wer etwas werden wollte „wanderte" bis zum Ausbruch des 1. Weltkriegs.
Thomas Kurr, Herzogenauracher Geschäfts- und Firmengründer, Vater des stadtbekannten Herzogenauracher Hobbyfilmers und Globetrotters gleichen Namens („Gogges" ist nur der Spitzname!), führte ein solches Wanderbuch, als er im Alter von 17 Jahren 1906 seine fränkische Heimat verließ, um „die Welt" kennen zulernen. Sein Weg führte ihn über Würzburg, Wiesbaden, Koblenz und Köln nach Essen. Von hier an die Nord- und Ostsee. Er lernte in Hamburg und Bremen, zog weiter nach Prag und Wien und verfeinerte seine Fähigkeiten in und um München.
Mit einem Kapital von 15 Reichsmark in der Tasche startete der Spenglergeselle im Mai 1906 und nahm zunächst erst einmal mit vier Freunden in Falkendorf Abschied von der Heimat „mit einigen Maß Bier". Mit seinem Kollegen, dem Metzgergesellen Johann Bauer aus Falkendorf ging es dann in aller Früh zu Fuß in Richtung Neustadt und Scheinfeld. Hier fochten unsere beiden „Tippelbrüder" 20 Pfennige, 5 Pfennige mehr als eine Übernachtung auf einem einfachen Lager damals kostete.
Unterwegs ergatterte man ein Mehlfuhrwerk und sparte sich den anstrengenden Fußmarsch, so dass man schon am 2. Tag der Wanderschaft in Würzburg ankam. Nach „nur 28 Kilometer Tagesleistung über zahlreiche Höhen" erreichte man Markheidenfeld und übernachtete im dortigen Gesellenhaus. Diese Herbergen für die wandernden Gesellen waren in fast allen größeren Städten im 19. Jahrhundert errichtet worden.
Zwei weitere Gesellen schlossen sich den beiden an, man wanderte „stramm" weiter nach Aschaffenburg und Thomas Kurr hält in seinem Wanderbuch fest:„Abends um sechs kamen wir in der schönen Stadt Aschaffenburg an. Hier hat es uns sehr gut gefallen. Die Häuser sind manchmal sehr künstlich (künstlerisch gestaltet) ...Schlafen, Abendessen und Frühstück (im Gesellenhaus) war frei....".
Hier trennt sich Thomas Kurr von seinen Begleitern und zieht vorbei an „der wenig schönen Fabrikstadt Höchst" in die „Weltkurstadt" Wiesbaden. Hier findet er Arbeit und verdient zunächst 33 Pfennige in der Stunde, später sogar 35. Im November packte ihn erneut die Wanderlust. Über Rüdesheim und Bingen ging es teils zu Fuß, teils per Bahn den Rhein entlang nach Norden. Groß war die Freude in Koblenz wo er einen bekannten Herzogenauracher traf, der sich als Schneidergeselle hier verdingt hatte.
Mit dem Personenzug 3. Klasse fuhr er weiter nach „Cöln". Hier hat es ihm gut gefallen, aber "mit der Arbeit war es etwas flau", weshalb er mit drei anderen gesellen nach Düsseldorf weiter reiste. Schließlich fand er Unterkunft und Arbeit in Hamborn, wo er „vor allem in der Installation ausgebildet wurde". Er sah sich Essen und Dortmund an, fand Gefallen an Lippstadt und Paderborn, besuchte das Hermanns Denkmal im Teutoburger Wald und zog weiter nach Bremen. Weil hier die Klempner im Streik waren, überbrückte er die Zeit mit Besuchen von Hamburg und Helgoland. Hier war unser Herzogenauracher Wanderbursche erschüttert über die Preise, die mehr als doppelt so hoch wie in der Heimat waren: 1.40 Mark für einen Kalbsbraten und gar 30 Pfennige für „ein Seidla" Bier, - das waren des Guten denn doch zuviel.
In Kiel fand Kurr Arbeit, erlebte ein großes Flottenmanöver während der Kieler Woche und zog im April 1907 weiter in die Reichshauptstadt. Hier erlebte er wohl den Höhepunkt seiner Reise. Nach einem Spaziergang „Unter den Linden" vermerkt er in seinem Wanderbuch schlicht und einfach „... hier habe ich auch gleich den Kaiser Wilhelm II. gesehen, der im Automobil angefahren kam..".
Unser Herzogenaurach „Blechpatscher" lernte in Berlin viel dazu, vor allem in Sachen „Beleuchtung". Über die Wintermonate hatte er viel Zeit, Museen und Kunstwerke anzusehen. Voller Begeisterung nahm er an einer Sitzung des Reichstags teil, in der Kanzler von Bülow und der Sozialistenführer Bebel sprachen.
Kurrs Wanderreise führte über die Sächsische Schweiz zu Fuß und per weiter nach Prag, Iglau und Wien. Überall versuchte einige Zeit Arbeit zu finden und schließlich zog es zurück ihn in Richtung Bayernland, nach Linz und Salzburg.
Am 10.Juli 1908 kam er in München an und stellte fest, dass nicht nur seine Schuhe, sondern auch „Wäsche, Bekleidungsstücke und .... das Portmonai reparatur- und erholungsbedürftig" seien. Zusammen mit 16 Spenglern arbeitete Kurr am Neubau des Verkehrsministeriums. Von hier aus wurde er für zwei Jahre zum Militärdienst nach Metz eingezogen.
Danach setzte Thomas Kurr seine Gesellen- und Wanderzeit fort, arbeitete bei der Gräfin von Eurasburg am Starnberger See, zog weiter über die Oberpfalz ins Oberfränkische und Schwäbische und landete letztlich in seiner Heimatstadt, in der er sich am 1. Februar 1914 als Flaschner und Installateur selbstständig machte und neben Metallartikeln später auch ein Glas mit „Goggesflocken" (Kokosflocken) auf dem Ladentisch stehen hatte.
Klaus-Peter Gäbelein